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Wiederaufnahme: Strafanzeige der Piratenpartei wegen geheimdienstlicher Massenüberwachung

Das folgende Schreiben wurde am vergangenen Freitag von der Rechtsabteilung der Piratenpartei an die beauftragten Anwälte der Liga für Menschenrechte et al. Hans-Eberhard Schultz und Claus Förster übermittelt. Die Rechtsanwälte werden den Text an den Generalbundesanwalt weiterleiten. Wir veröffentlichen das Schreiben hier in einer für euch kommentierten Version, um zu erklären, wie die geheimdienstliche Massenüberwachung die Arbeit der Piratenpartei stört.

Sehr geehrte Herren,
Wir schließen uns der Strafanzeige der Internationalen Liga für Menschenrechte, des Chaos Computer Clubs und Digitalcourage vom 03.02.2014 beim Generalbundesanwalt gegen Agenten US-amerikanischer, britischer und deutscher Geheimdienste, ihre Vorgesetzten sowie Mitglieder der Bundesregierung wegen geheimdienstlicher Massenüberwachung an.

Die zugrundeliegende Strafanzeige hat der CCC am 3. Februar gestellt. Den vollständigen Text kann man hier nachlesen: Strafanzeige-NSA.3.2.14.pdf (59 Seiten). Einer solchen Anzeige kann man beitreten, wenn man sich ebenfalls betroffen fühlt. Wer beitritt, ist eingeladen, seine Betroffenheit zu begründen.

Wir, die Piratenpartei Deutschland, sind unmittelbar von der illegalen Massenüberwachung deutscher, britischer und amerikanischer Geheimdienste betroffen, da unsere (Grund-) Rechte in ihrem Wesensgehalt verletzt werden.

Wir werden – wie ihr, wie alle – ausgehorcht, unsere Daten abgeschnorchelt und irgendwo irgendwie lange gespeichert. Sie werden nach unbekannten Algorithmen ausgewertet, miteinander verknüpft und unter den Geheimdiensten weitergegeben. Was vor einem Jahr noch als Verschwörungstheorie abgetan worden wäre, ist nun traurige Gewissheit. Noch viel trauriger ist die offensichtlich völlige Uneinsichtigkeit von »Diensten« und Regierungen

Denn mit den »Diensten« verstoßen auch die für ihre Kontrolle verantwortlichen Politiker – durch aktive Beteiligung oder Gewähren lassen – fortgesetzt gegen Grundrechte von Menschen in ihrem eigenen oder in anderen Ländern. Dabei ist es unfassbar, dass diese gedankliche Trennung überhaupt existiert: In den USA richtet sich viel mehr öffentliche Empörung gegen die (mitunter versehentliche) Bespitzelung von US-Bürgern als gegen die Massenüberwachung der ganzen Welt. Dies ist eine schlimme, nationalistische Tendenz. Und die deutschen »Dienste« machen munter mit – ja, sie freuen sich sogar über Datenlieferungen der »befreundeten« Dienste.

Gegen all das verbleibt uns Bürgern – neben unserem Wahlrecht – eigentlich nur Empörung. Und wir können dieser Empörung auf allen uns zugänglichen Kanälen Ausdruck verleihen. Einer dieser Kanäle ist diese Strafanzeige.

Natürlich haben wir wenig Hoffnung, dass aufgrund der Anzeige tatsächlich ernsthafte Ermittlungen aufgenommen werden und schließlich ordentliche Strafprozesse zu den notwendigen Verurteilungen und angemessenen Strafen für die Verantwortlichen führen. Dafür sind die aktuellen Strukturen auch gar nicht geeignet. Denn Agenten würden selbstverständlich rechtzeitig aus dem Geltungsbereich der deutschen Gesetzgebung abgezogen, und die direkte Beteiligung der verantwortlichen Politiker wird im Einzelnen schwer gerichtsfest nachvollziehbar sein. Und alle Beteiligten werden sich auf irgendwelche diffusen Aspekte der »nationalen Sicherheit« berufen, die es ihnen verböten, die notwendigen Unterlagen herauszugeben.

Die Staatsanwaltschaften dürften dem wenig entgegenzusetzen haben. Die Piraten fordern [1] unter anderem auch darum eine stärkere Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften. Nein, eine solche Anzeige ist natürlich ein politischer Schritt.

Die vielfältigen Überwachungsmaßnahmen der genannten Dienste bzw. Personen heben die Vertraulichkeit und Integrität der von der Piratenpartei betriebenen informationstechnischen Systeme faktisch auf. Wir müssen inzwischen davon ausgehen, dass jedwede Fernkommunikation innerhalb unserer Partei mitgehört oder -gelesen und ggf. sogar gespeichert wird. Nicht zuletzt, da es sich hierbei prinzipiell ausnahmslos um personenbezogene Daten besonderer Art gem. § 9 Abs. 3 BDSG (politische Überzeugung) handelt, ist das untragbar.

Die Piratenpartei versteht sich als Partei der Informationsgesellschaft. Mehr als bei anderen Parteien erfolgt die Willensbildung kollektiv und unter selbstverständlicher Benutzung des Internets in jeder denkbaren Weise.

Ein Großteil unserer parteiinternen Kommunikation auf Ebene des Bundes, der Länder, aber auch der Kommunen sowie der Arbeit unserer Fraktionen in vier Landtagen und dutzenden Kommunalparlamenten läuft elektronisch ab. Durch die Überwachung der Internetkommunikation werden sowohl die Rechte von gewählten Parteigremien wie etwa den Bundes- und Landesvorständen als auch die grundgesetzlich besonders geschützten Rechte unserer Abgeordneten in den Landtagen und Kommunen gravierend eingeschränkt.

Da die Überwachung flächendeckend erfolgt, werden aber auch die Rechte unserer Mitglieder eingeschränkt. Denn sie tauschen sich über Mailinglisten, soziale Netzwerke, Wikis, Online-Telefonkonferenzen und Blogs aus, vernetzen sich und organisieren gemeinsam die politische Willensbildung der Partei.

Durch den Einsatz elektronischer Hilfsmittel konnte die Piratenpartei in kurzer Zeit eine breite programmatische Aufstellung erarbeiten. Unsere bundesweit eingesetzten Meinungsbildungswerkzeuge »Liquid Feedback«, »WikiArguments« und »Lime Survey« sollen Piraten die Möglichkeit geben, online gemeinsam über Programm- und Satzungsanträge zu diskutieren und Meinungsbilder zu erstellen. Aber wir wollen in der Piratenpartei keine »Gesinnungsdatenbank«. Deswegen lassen wir pseudonymen und anonymen Zugriff zu und speichern nichts – die Geheimdienste schon.

Piraten, die am Willensbildungsprozess – aus welchen Gründen auch immer – anonym teilnehmen wollen, werden diesen Kanal daher nicht mehr nutzen. Schlimmer noch: Es stellt sich heraus, dass jahrelang praktisch jeder Klick im Netz mitprotokolliert worden ist. Nicht wenige Piraten fragen sich: »Werden wir auch in einigen Jahren noch in die USA oder sonst irgendwohin reisen können?«

Politische Meinungen werden nicht zufällig im Bundesdatenschutzgesetz zu den besonders schützenswerten Daten gerechnet, in einer Linie mit »rassischer und ethnischer Herkunft« und »Sexualleben«. Der Text mag manchen überraschen: »Besondere Arten personenbezogener Daten sind Angaben über die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, Gesundheit oder Sexualleben.« Die §§ 13 und 14 des Bundesdatenschutzgesetzes schränken dann Erhebung und Nutzung dieser »besonderen« Daten stärker ein als die anderer persönlicher Daten. Sicher aus guten Gründen – sind doch gerade solche Informationen in der deutschen Geschichte schon auf grausame Weise missbraucht worden.

Und jetzt werden sie wieder gespeichert. Von irgendwem. Irgendwie. Irgendwo. Für unbestimmte Zeit.

Wenn dies schon innerhalb einer Partei zu Problemen führt, dann betrifft es umso mehr auch Menschen, die an der Schwelle der politischen Beteiligung in einer Partei stehen, die sich für die Positionen der Piratenpartei interessieren. Wird jeder Klick protokolliert, steigt die Hemmschwelle für parteipolitische Beteiligung:

Weiterhin beeinträchtigt uns die Überwachung durch die oben genannten Dienste bzw. Personen in unserem grundgesetzlichen Auftrag zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung bis zur Unmöglichkeit: Bereits die Möglichkeit der Präsenz eines “mithörenden” Überwachers verändert das Verhalten von Menschen in einer Weise, dass politisches Verhalten vermieden wird. Dieser sog. »chilling effect« ist umso stärker, wenn die Überwachung nicht nur möglich, sondern eine allgegenwärtige Tatsache ist.

Die Begründung betrifft im Grunde alle politischen Parteien. Die Piratenpartei versteht sich aber mehr als andere Parteien als dem Netz verbunden. Bereits die Präambel des Parteiprogramms beginnt mit den Worten »Im Zuge der Digitalen Revolution aller Lebensbereiche…«. Und natürlich setzt sich die Piratenpartei mehr als andere Parteien für dieses Netz ein und versucht, über dieses Netz und den Umgang mit ihm zu informieren.

Schauen wir uns als Beispiel die von vielen Piraten bundesweit veranstalteten »Kryptopartys« an: Hier wollen wir interessierte Menschen nicht nur über Umfang und Folgen der elektronischen Überwachung informieren, sondern ihnen auch die Grundlagen digitaler Selbstverteidigung nahebringen. In Zeiten allumfassender Überwachung ihres Tuns fragen sich diese Menschen möglicherweise: »Wird man nun denken, ich habe etwas zu verbergen?« – und kommen deswegen nicht zur Kryptoparty.

Damit wird die Piratenpartei noch mehr als andere Parteien darin beeinträchtigt, ihrem Bildungsauftrag nachzukommen. Und ein allgemeines Muster wird sichtbar:

Wie bereits in Abschnitt A III 1 der Strafanzeige festgestellt wurde, verändert nämlich umfassende und anlasslose Überwachung die Verhaltensmuster der Menschen. Der als allgemein unterstellt angenommene Anfangsverdacht gegen jeden einzelnen Menschen und die daraus entstehenden Ängste vor gefühltem Fehlverhalten werden zur Richtschnur des eigenen Handelns. Vorauseilender Gehorsam vor einer gefühlten »herrschenden Meinung« ist die Folge. Politische Willensbildung wird hierdurch untergraben.

Dieser als »Chilling Effect« bekannt gewordene Sachverhalt wird von den Verfassungsgerichten durchaus anerkannt. Christian Rath hat das ausführlich <a class="extern" href="http://www.christian-rath.de/KJ-Einschuechterungseffekt-09.pdf" title="
Karlsruhe und der Einschüchterungseffekt – Praxis und Nutzen einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts in: Kritische Justiz 2009, Beiheft 1, S. 65-80″>beschrieben und durch viele Urteile belegt.

Insbesondere wird uns die Anregung und Vertiefung der politischen Bildung (vgl. § 1 Abs. 2 PartG) über Gebühr erschwert, da sowohl Mitglieder als auch andere Bürgerinnen und Bürger bei Nutzung von Informations- und Bildungsangeboten befürchten müssen, überwacht zu werden.

Wer vermutet – oder wie im vorliegenden Fall sogar weiß –, dass nicht nur der eigene Internetprovider, sondern auch eine Vielzahl von Geheimdiensten das Telekommunikationsverhalten beobachten, wird vielleicht überlegen:

»Jegliche Kontaktaufnahme mit der Piratenpartei – sei es durch den Besuch der Internetpräsenz, den Besuch eines Forums, die Teilnahme an Online-Telefonkonferenzen, den Besuch des parteiinternen Wikis, das Abonnement einer Parteimailingliste, eines Newsletters oder die Teilnahme an einer Online-Umfrage – wird durch Geheimdienste erfasst und auf unbekannte Zeit gespeichert. Worin könnten Spätfolgen dieser Überwachung bestehen? Kann ich sie abschätzen?«

Interessierte, aber auch Mitglieder werden unter Umständen sogar ganz davon absehen, Kontakt aufzunehmen. Und so geben sie ihren freien und ungehinderten Zugang zu Information auf, so schränken sie sich in ihrer politischen Partizipation ein. Nein: So wird ihnen der freie und ungehinderte Zugang zu Information verwehrt, so werden sie in ihrer politischen Partizipation eingeschränkt.

In dieser Atmosphäre ist der politische Meinungsbildungsauftrag der Piratenpartei nicht mehr vollständig zu erfüllen.

Die Vergangenheit hat – gerade auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland – hinreichend gezeigt, welches Missbrauchspotential gespeicherte und beliebig verknüpfbare Daten haben. Täglich neue Nachrichten über Sicherheitslücken zeigen deutlich das Risiko ausufernder Datensammlungen auf, werden doch allenthalben Daten gestohlen.

Ebenso wird uns die Förderung der aktiven Teilnahme am politischen Leben (vgl. § 1 Abs. 2 PartG) über Gebühr erschwert, da sowohl Mitglieder als auch andere Bürgerinnen und Bürger z. B. von der Teilnahme an Demonstrationen abgeschreckt werden.

Die Piratenpartei ist Mitveranstalter zahlreicher Demonstrationen gegen Überwachung und Internetzensur. Durch das Bewusstsein, dass jeder Besuch einer Demonstration durch das Abfangen von Standortdaten von Handys und Smartphones erfasst werden kann, und anlasslos, umfassend, und in unklarem Umfang und auf unbekannte Dauer gespeichert wird, werden Menschen davon abgehalten ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen. Durch eine flächendeckende Überwachung des Internets werden sie möglicherweise nicht einmal mehr wagen, die Internetpräsenz der Veranstalter zu besuchen oder in sozialen Netzwerken für Veranstaltung zu werben.

Es ist genau wie 2010 in diesem Urteil des Verfassungsgerichtes Berlin beschrieben – nur schlimmer, weil die Überwachung schon viel früher einsetzt und viel umfassender ist. »Mit dem Handy in der Hosentasche zur Überwachungsdemo« – da muss man schon tief durchatmen…

Darüber hinaus wird uns die Einführung der von uns erarbeiteten Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung über Gebühr erschwert, da sowohl Mitglieder als auch andere Bürgerinnen und Bürger davon ausgehen müssen, dass die Kundgabe einer politischen Meinung bspw. in Form einer Petition oder in Form eines Antrags an eine unserer Fraktionen (vgl. unser Projekt “OpenAntrag”) von Unbekannten auf unbekannte Dauer zu unbekannten Zwecken gespeichert wird.

Die Einbindung von Bürgern in die parlamentarische Arbeit wird durch die allgegenwärtige Überwachung natürlich ebenso erschwert. Zahlreiche unserer Mitglieder haben Petitionen beim Bundestag eingereicht, die online gezeichnet werden können. Das Wissen, dass eine Unterzeichnung nicht nur vom deutschen Bundestag, sondern auch von Geheimdiensten nachverfolgt werden kann, wird Menschen von einer Teilnahme an derartigen Instrumenten abhalten.

Mit unserem Portal »Open-Antrag« ermöglichen wir es Bürgern, Anträge an die Fraktionen der Piratenpartei in den Landes- und Kommunalparlamenten zu stellen. Wir erlauben ausdrücklich die Eingabe von anonymen Hinweisen und Anträgen sowie kleinen Anfragen. Anonym? Sorge vor flächendeckender Überwachung wird Menschen, die wirklich Anonymität suchen, davon abhalten, Eingaben an die Fraktionen zu richten oder über elektronische Medien Kontakt mit unseren Abgeordneten aufzunehmen.

Auch Abgeordnete, Funktionsträger und Mitglieder werden in ihrer Teilhabe an der politischen öffentlichen Debatte eingeschränkt, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass Kommunikation und Kontaktaufnahme zu Journalisten erfasst und auf unbestimmte Zeit gespeichert wird. Wir beobachten bereits einen zunehmenden Anteil verschlüsselter E-Mails von Journalisten an Funktionsträger der Partei. Der Kontakt selbst kann jedoch aufgrund der speicherbaren Metadaten nicht verschlüsselt werden.

Je mehr wir das Internet als Plattform für politische Arbeit nutzen, desto mehr werden wir durch die umfassende Überwachung von Telekommunikationsinfrastrukturen betroffen – auf allen Ebenen.

Die »ständige, lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen« können wir unter dem Damoklesschwert einer anlasslosen, allumfassenden Überwachung nicht mehr im (grund-)gesetzlich garantierten Rahmen nachkommen.
i.A. Joachim Bokor, LL.M.

Diese Formulierung steht tatsächlich so im §1 des Parteiengesetzes. Wir haben oben ausführlich beschrieben, wie wir diese lebendige Verbindung eingeschränkt sehen, wenn alles anlasslos überwacht wird.

Die angezeigten Personen sind besonders für diese Einschränkungen verantwortlich: Ihnen waren die Überwachungsmaßnahmen seit langem bekannt waren und sie haben die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte, zur Wahrnehmung des Datenschutzes und zur Vertrauensbildung in der Bevölkerung schuldhaft unterlassen.

Danke an CeCe für seine Beiträge zum Text des Beitrittes und an Kattascha, ZombB und moonopool für die Erläuterungen.